Du ziehst in eine neue Stadt oder ein neues Land um. Dort nehmen die „gesichtslosen“ Straßen dich auf. Ab jetzt wird die ganze Welt wieder vom Null an gerechnet. Aber du richtest dein Leben ein, wahrscheinlich mal anders wie vorher, aber doch immerhin in deinem eigenen Rhythmus. Alle alten Gewohnheiten trägst du doch mit, im Vakuum verpackt und dicht abgeschlossen.
Bald spielt sich die bekannte Routine ein, du gehst einkaufen, ins Büro oder studierst. Die ersten Adrenalinausstöße hast du erfolgreich überstanden. Fast vorbei ist die erste süß-stressige Eingewöhnungszeit, als du ganz allein die neue Umgebung und ihrer Gesetze umpflügtest. Aber schon in 2-3 Wochen läuft der Tag des Murmeltieres wieder in vollem Tempo ab. Die Selfies von den 10 Top-Sehenswürdigkeiten und von dem neuen Zuhause sammeln schon „Likes“ auf Instagram. Sogar einen kleinen Stoß gegen deinen Ex hast du nicht vergessen – du im Bikinianzug unter den Tags #verliebtundglücklichwienie und #neueStadtneuerAnfang. Du lebst im Neuen auf deine alte Weise. Und gerade in diesem Moment passiert es.
Als ob das Gehirn sich über dich lustig macht, heimlich und gemein. Es trifft deine wunde Stelle mit der Präzision eines Killers und genau in dem Augenblick in dem du diesen Schlag in die Herzgrube am wenigsten erwartest.
Du bummelst die Einkaufsstraße entlang, entspannt und locker, ein flüchtiges Gefühl – „hier bin ich zu Hause“- fließt durch deine Adern, vielleicht zum ersten Mal seit dem Umzug. Du schwebst vergnügt im Einklang mit der neuen Realität. Für eine Sekunde –glücklich, für einen Moment – voll erfüllt.
Plötzlich flaniert die Nachbarin, Kollegin oder Universitätsprofessorin aus deiner Heimatstadt dir entgegen. Die gleichen Gesichtszüge, dieselbe Frisur und identische Körperhaltung. Du richtest dich auf, lächelst, noch einen Augenblick und du wirst sie herzlich in deiner Muttersprache begrüßen –„so lang habe ich Sie nicht gesehen… Wie geht es Ihnen?“
Bevor du zum Aussprechen kommst, ist ein anderer Befehl aus der gleichen Quelle schon eingetreten. Die Ernüchterung überschüttet dich, wie ein Sprung in den Bergsee: „Anderes Land, andere Stadt, andere Sprache!“
Warum macht es so mit uns?
In dieser Lebensphase sucht unser Gehirn, krampfhaft und chaotisch, eine Stütze. Er reißt die Gesichter der Gegenwart heraus und verbindet sie mit der Vergangenheit. Nur eine Sekunde auf die Pause drücken und im Stillstand bleiben. Und dann sofort wieder zurück zur Zeitlosigkeit und Gedächtnislücke, zum absoluten Null und vollen Anfang.
Du ziehst so viel Luft ein, wie es geht und schwimmst unter dem Wasser, noch ein bisschen, noch einen Tag, eine Woche, ein Monat und bald schnüren sich die Knötchen des neuen Lebens zusammen. Aber bis dahin musst du es noch schaffen. Halte durch und dehne deine Lunge aus.
Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Doppelgänger von meinen russischen Mitbürgern ich in Wien gesehen habe. Und wie viele österreichische Nachbarn und Verkäufer mein Gehirn im „gesichtslosen“ bayerischen Städtchen wiedererkannt hat.
Jetzt sind wir schon einige Jahre hier, eingewachsen und eingewurzelt im Bayernland. Die Straßen betäuben uns mit einem Übermaß an den bekannten Gesichtern: den lokalen Narren, Verkäufern, Gärtnern, Bauarbeitern… Jeder hat seine Geschichte und seine Welt, dreht sich in Kreisen tagsüber. Wien wurde von denen verdrängt, für immer, wie ich gedacht habe.
Aber gerade heute bei der Ampelkreuzung erblickte ich einen Mann – eine präzise Kopie unseres Wiener Nachbarn. Begrüßt habe ich ihn nicht, da mein Gehirn zu schnell oder meine Zunge zu langsam war. Aber in diesen Millisekunden zwischen der Gesichtserkennung und der kalten Dusche hatte ich wohl genug Zeit zum Denken „Er geht nach Hause vom Büro, die Kinder sind in der Schule, sein Sohn Felix wird am Abend wieder mit Steinewerfen den ganzen Hof in Aufruhr bringen“.
Erst später funkten die Blitzen, donnerten die Trommeln „ andere Stadt, andere Stadt, andere Stadt“. Ich war sicher, mein Wiener Leben wurde hermetisch abgeriegelt, eingepackt und in der letzten Ecke meines Gedächtnisses deponiert. Aber das ist immer noch hier, hinter der Seitenwand, diese Synapse gerade und dann links. Alles ist zusammen, alles ist einig.
Das Städtchen hier in Deutschland wirkt bewohnbar, fühlbar und riechbar. Wien verwandelte sich mit der Zeit ins Vergangene. Und nur ein Gesicht, eine Erinnerung, hauchdünn und fast erloschen warf die Verhüllung von den Bildern, Figuren und Gedanken hinunter. Alles glänzte wieder in der ihrer imperialen Pracht.
Ein Spinnenfaden hat einen Elefanten rausgezogen.
Phantomgesichter werden von den realen Abbilden langsam verdrängt….
Aber Gott gebe, bei dem Erblicken der realen Gesichter gerinnt unser Blut nie in Sehnsucht nach denen aus der Vergangenheit, die jetzt Phantome sind, aber einmal unser Zuhause waren.