Vor kurzem haben wir den Puppenanimationsfilm „Anomalisa“ gesehen. Dieser hat uns sehr gefallen.
Handlung (mit Spoiler)
Michael Stone, der Autor des Bestsellers über die effektive Arbeit mit den Kunden, kommt in die Stadt Cincinnati. Er ist verloren, wahrscheinlich leidet er auch unter Depressionen. Nach dem ungeschickten Rendezvous mit seiner Ex-Liebhaberin trifft er zufällig zwei Frauen im Hotel . Sie sind Mitarbeiterinnen eines Kundencenters und sind speziell hier her gekommen um seine Vorlesung zu hören. Er verliebt sich in eine von ihnen – Lisa – und verbringt mit ihr die ganze Nacht. Am nächsten Morgen beim Frühstücken entscheidet er, sich von seiner Frau zu trennen – Lisa ist eine Traumfrau für ihn. Aber sehr bald danach verliert sie in seinen Augen den Charme, irritiert und ärgert ihn. Er hält die Vorlesung ganz anders, als er vorher geplant hat. Die Vorlesung verwandelt sich in eine Beichte, in der er sich der Lächerlichkeit preisgibt. Michael fliegt zurück nach Hause. Seine Frau überrascht ihn mit einer Party mit allen seinen Verwandten und Freunden. Doch er erkennt niemanden und entfremdet sich von allen noch mehr. Lisa fährt nach Hause und schreibt ihm in einem Brief, dass sie voll Wärme, Liebe und Dankbarkeit ist, und darauf hofft, Michael wieder mal zu sehen.
Gedanken und Impressionen
Die große Ironie dieses Films liegt darin, dass die Hauptfigur, ein Autor des Buches über die Zufriedenheit der Kunden, selbst zutiefst unzufrieden ist mit seinem eigenen Leben. Ein kleiner Mensch, der seine emotionelle Verbindung mit der Welt verloren hat. Sein Abend im Hotel ist eine Abfolge von gleichartigen schablonenhaften Handlungen und Szenen – Alkohol mit Eis, der Fernseher, die nicht funktionierende Dusche, die ihn mit kochendem oder eiskaltem Wasser ärgert, die sorgfältig auf das Bett gelegte Decke – genauso wie in vielen Hotels auf der Welt. Er ist selbst ein –Stereotyp von einem Menschen, befindet sich in der Midlife-Crisis, raucht eine Zigarette nach der anderen, ist dicklich, unsportlich, mit dem Bäuchlein. Aber er platziert sich selbst außerhalb dieser Menschenherde. Michael glaubt, er ist anders, obwohl er fast einer von ihnen geworden wäre, buchstäblich fast sein Gesicht verloren hätte. Sein unterer Gesichtsteil ist mit dem Krach fast losgebrochen, als er sich im Spiegel angeschaut hat (das Puppenmaterial hat die Realität der Szene offenbar sehr begünstigt). Aus dieser Verrücktheit rettet Lisa ihn für eine Nacht. Er nennt sie „Anomalisa“, vom Wort Anomalie. Michael Stone’s Leben ist ein Vakuum ohne Gefühle, aber die Verliebtheit, die durchbrennende Zärtlichkeit ist eine Anomalie.
Das Hotel, in welchem Michael Stone übernachtet, heißt Fregoli. Ein bedrohlicher Ort, an dem alles und alle anonym sind, mit einem Gesicht und mit einer männlichen Stimme. In der Psychiatrie ist ein Syndrom Fregoli bekannt, das einen Mensch beschreibt, der überzeugt ist, dass alle Leute das gleiche Gesicht haben und ihn verfolgen. Kann es nicht ein Aspekt der tiefen Abneigung sein, die anderen kennen zu lernen, eine emotionale Verbindung mit ihnen zu schaffen, die Tiefe der Beziehungen mit ihnen zu ergründen? Im Film wird eine Nacht aus dem Leben dargestellt – diese wenigen Stunden sind eine Reise in die tiefe Welt der Emotionen und Gefühle – Entfremdung, Apathie, die Suche, die Liebe, Zärtlichkeit, Leidenschaft, Begeisterung, Angst vor Verlust, Irritation, Enttäuschung und wieder Entfremdung, Apathie… Der Zyklus wirde zum Abschluss gebracht. Die Liebe kann den Protagonisten nicht aus der üblichen Lebensweise, Gedanken- und Gefühlsroutine herauswerfen, aber sie hat das Leben von Lisa vollständig geändert.
Die Figuren dieses Puppenfilmes befinden sich in der faszinierenden Mikrowelt. In kleinsten Details wurde das reale Leben kunstvoll nachgebaut: ein Duschspiegel im Dampf, Zigarettenrauch, im Wind flatternde Haare, Regentropfen auf dem Fensterglas. Die Synchronsprecher haben dem Film etwas ganz Besonderes verliehen. Die Beleuchtung wurde sehr raffiniert gestaltet: diese ist dunkel-trübe oder im scharfen Kontrast, wenn Michael allein ist, und pfirsichrosa bei den Szenen mit Lisa. Ich erinnere mich ständig an das Filmfragment mit Lisa, die das Lied singt. Sie ist bereits in Michaels Zimmer, sehr scheu und unsicher. Er bittet sie, ihr Lieblingslied für ihn zu singen. Sie wählt «Girls just want to have fun» (Cyndi Lauper), macht die Augen zu, konzentriert sich, hört der inneren Melodie zu und singt halb im Wispern. Das ist wunderschön. Lisa spielt und flirtet nicht, sie erlebt diesen Moment mit tiefsten Emotionen. Sie drückt damit Ihre Sehnsucht und Einsamkeit aus, den über Jahre aufgestauten Wunsch zu lieben und geliebt zu werden. Die ganze Szene wirkt selbstvergessend und teilweise aufopfernd.
Kein Trailer des Filmes zeigt die Bettszene. Aber es gibt sie im Film, sehr detailliert, offen und schön. Echte Erotik – Puppenerotik kann man das nicht nennen – eher Erotik für das Wohnzimmer, als für den Kinosaal – bis hin zu Gänsehaut und Herzflattern.
In der Suche nach Informationen über die Produktion habe ich im Netz Fotos gesehen. Darauf sieht man Plastikbehälter mit Puppenbeinen und Händen, zahlreiche Körbchen mit den Gesichtern, das Stativ, Kräne und im Hintergrund Künstler, Direktor, Assistenten – auf den Knien, beugend und suchend nach idealer Beleuchtung, Ansicht und besserem Fokus. Aus der toten Welt des kalten Materials entsteht ein lebendiger Mensch, der unglaublich kreativ, intelligent und talentiert ist! Auf dem Bildschirm des Kinosaals lebt das Material auf und der Verstand kann kaum erfassen, wie viel Arbeit, Zweifel und Planung in diesem „menschlichsten Film“ ohne einen einzigen Schauspieler steckt.