Stephansdom und die Plastikflasche

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Auf dem Turm des Wiener Stephansdoms, inmitten der gotischen Vegetation, sich gegen die Wand und die blumigen Lockenringel aufstützend, steht eine grüne Plastikflasche mit Mineralwasser und blinkt mit rosa Etikett in die Außenwelt.

Die überirdische Macht der Kirche bringt mich ins Beben. Ich komme rein und erstarre gleich unter der erschütternden Eindruckskraft der Kuppel, die göttliche Majestät raubt mir das Atem. Es ist besser alles bei sich zu halten, um nicht versehentlich den herrlichen Riesen mit meiner kläglichen Anwesenheit zu schänden. Ja, hier steckt die Gefahr der Verwandlung – du trittst in die Kirche ein als gläubiger Christ, aber verlässt sie als Heide, betest nicht mehr den Geist, sondern den Stein an.

Aber genau im Moment der höchsten Pietät und religiösen Ekstase geht dir ein Bauarbeiter mit Dreitagebart und in der von weißer Farbe und Staub beschmutzten Dienstbekleidung entgegen.

Ohne mit dem Morgengebet den Tagesanfang zu loben raucht er seine billige Zigarette fertig, zieht die Arbeitshosen hoch und steigt auf die Baugerüste um den Dom. Schwer im Magen liegt die in Eile verzehrte Bratwurst, er hat Durst, eine Plastikflasche mit dem Mineralwasser schaut aus seiner Hosentasche und stößt gegen die Metallrohre. Auf der Höhe von 60 Meter holt er gleichgültig seine Werkzeuge heraus, noch eine Sekunde und er startet das große Putzen: die Domfassade wird von dem tiefen Staub und Taubenkot gereinigt. Der Stein ist für ihn genau gleich wie alle anderen: im letzten Quartal hat er die Hochhäuser am Stadtrand durchgefedert und reingemacht.

Für dich ist der Dom ein Gebet, für ihn – ein Arbeitsplatz und eine Stütze für das Lebensnotwendige.

Bei solcher Annäherung überschreitet man die Grenze zwischen dem Göttlichen und Menschlichen und landet auf der Erde.

Die Plastikflasche, die aus Versehen oder ganz bewusst dort hängen gelassen wurde, ist wie eine Erdung bei übermäßiger Pietät und Pathos.

Eine „Kunstinstallation“ zur Erinnerung – was hier vom Gott und was – von der Erde ist. Die flaschenartige rosa Alarm leuchtet uns mit der einfachen Aussage an: „Gott ist nicht da, wo der Stein ist. Er ist dort, wo geglaubt wird“. So habe ich das verstanden. Und was denkt ihr?

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