Im Zentrum unseres Dorfes herrscht immer Lärm, Hektik und Eile. Ein S-Bahnhof mit ankommenden und abreisenden Zügen, Ärzteт, Geschäften, der Post und darunter die Passanten, die immer was zu erledigen haben und wie mechanische Spielzeuge sich vom Punkt A über den Punkten B und C zum Endpunkt D bewegen. Dabei kreisen die verzweifelten Autofahrer endlos über die Kreuzung und hoffen noch den herbeigesehnten Parkplatz doch zu finden. Die bauchigen Autobusse, die Schwergewichtler der interdörflichen Verbindung, passen kaum in die engen Straßen hinein und watscheln faul und langsam im Verkehrsstrom. Auf diesem Fleckchen Erde pulsiert das Leben im Rhythmus einer Großstadt.
In diesem Honigtropfen der von Menschen umschwärmt wird wie Fliegen, steht ein „Zaubercafé“ wie ich es nenne. Im fliegenden Wechsel ändern sich Besitzer, Schilder, Dekorationen. Erst Vorhänge mit grünen Punkten, dann in Blümchenmuster, die Plastikpalmen und -zypresse verschwinden, dann wurden echte gekauft, je nach Kosten und Gewinn wechseln sich gegenseitig die brennenden Abendkerzen und die elektrischen mit dem Fakeflimmern auf den polierten Tischen ab. Egal wie sich das Café vom Äußeren ändert, die Atmosphäre drinnen bleibt immer die gleiche: Schlaf und Schlummer und Ruhe. Die Luft scheint so schwer und schläfert ein, dass selbst die Fliegen beim Anfliegen zu den Zuckerkristallen und Сroissantbrösel auf dem Steinboden einschlafen.
Die bedrückende totale Stille, der Schacht, in dessen beton-gläsernen Raum jeder Laut mit Echo und Donner sich widerhallt und die ganze Umgebung betäubt. An den Tischen sitzen die anständigen bayerischen Pensionisten mit Bier und schweigen. Auch wenn sie sich beim Kaffee treffen, ratschen sie zuerst gesellig und nett um dann später wie gezwungen zu verstummen, als ob die pastillenähnlich hinziehende Ortsstille sie eingesaugt hat.
Die Cafébesitzer, ein Ehepaar aus Italien, kommen jeden Morgen im alten blauen Fiat. Sie sind langsam, ruhig, das südliche Temperament ist schon gezähmt und an die Gewohnheiten der moderaten bayerischen Kunden angepasst. Sie stehen am Barschalter und warten, starren in diese kühle Leere, in die vom Frost geröteten ermüdeten Gesichter. Noch ein Glas Bier vielleicht?
Den beiden würde ein kleineres gemütliches Restaurant mehr passen, das vollkommen mit alten Möbeln, den Zimmerpflanzen, Oma’s Souvenirs, den verstaubten Weinflaschenregalen und dem kleinen Grammophon verrammelt ist, aber nicht dieser Betonaufmarschplatz, ohne Anfang und Ende, der Apriori unbewohnbar und kalt wirkt.
Einmal bin ich da mit Kindern reinflaniert und wir mochten uns einen Apfelstrudel gönnen. Das war eine unerwartete Bestellung für die Cafébesitzer, deswegen kriegten wir ein Dessert von vorgestern, direkt aus dem Kühlschrank, ohne Zauber von Puderzucker und Schlagobers auf dem Teller. Aber die Kinder sind schwer zu betrügen, der Zucker, auch vom vorgestrigen Strudel, wurde schnell von ihnen aufgenommen und gleich in Bewegungsdrang sich transformiert. Da erinnere ich mich nicht genau daran, was der Auslöser war: sie wollten die Palme hochklettern oder mit dem Mantelständer Maugli spielen oder die Märzkatzen unter dem Tisch bei meinen Füssen inszenieren, aber bald schallte durch die Halle schrill die Schreierei. Das Ende meines ruhigen meditativen Kaffeetrinkens. Jetzt war das Trösten, Verstehen, Nachreden, Formulieren und Küssen an der Reihe. Als Zuschauer hatten wir dieses Mal das ganze Kaffeehaus, wir traten wie gewohnt mit dem fremdsprachigen Programm auf.
Plötzlich hat sich uns eine Frau uns genähert, offen, frei und locker, in der hellen Seidenkleidung, mit langen grauen Haaren, auffallend anders war sie in ihrem Gleiten zwischen den Tischen und Stuhlen.
«Sprechen sie russisch?» – hat sie mich mit Akzent auf Russisch gefragt. «Ich spreche auch Russisch, meine Mutter war Russin, aber Papa war Franzose aus Paris. «Ich bin schon 53 Jahre alt, in Deutschland wohne ich schon seit 10 Jahren. Das ist so super, dass sie Russisch sprechen und was ist passiert? Ihr Sohn hat sich angehauen? Ist alles gut bei Ihnen?»
Sie mischte Russisch mit Französisch, sprach die Wörter ihrer „Mutter“-Sprache aufgeregt, mit unendlicher Zärtlichkeit und Wärme aus. Wie der Durstige Wasser trinkt, hat sie schnell geflüstert, gierig und unersättlich. Die verdammte Höflichkeit hat mich nicht gelassen, sie bei den Schultern zu greifen und zu schütteln so lang, bis sie sagt wie Ihre Eltern zusammengekommen sind? Postrevolutionäre Immigration, die Liebe auf den Ruinen des zweiten Weltkrieges, sinnliche diplomatische Beziehungen?»
«Ja, Ja, ich wünsche Ihnen auch einen schönen Tag, Auf Wiedersehen!»
Wir verließen das Café und ich war tief in Gedanken über die außerordentliche Kraft der Muttersprache, über die Liebe, Zärtlichkeit, Erinnerungen, Schmerz, Gefühle, die wie die Bühne hinter jedem russischen Wort für diese Frau da standen. So vielleicht werden meine Kinder auch irgendwann die russische Rede aus der Menschenmenge, Radio, Fernseher, Internet hinausreißen und das Mütterliche suchen. Meine, ihre, unsere…
Die Cafébesitzer standen unverändert und warteten bei der Bartheke… Vielleicht kommt noch ein Kunde?
Nein, das Café wird von keinem Zufälligen besucht. Da sitzen nur die Stammkunden, die diese zähflüssige Stille, die Bierbläschen, die vorbeigehenden Einkäufer, die vorbeigehenden Leben brauchen. Und an den Holztischen mit den Plastikblümchen, aus dem Zuschauerraum sehen sie alles an, wie im Fernseher und meditieren dabei in schaum-gelblichen Bierschimmer oder… ertrinken… Die passiven Beobachter unserer kleinen Stadt.